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Angewandte Systemwissenschaft - Ursprung und Entwicklung

Die Systemwissenschaft ist im Vergleich zu den naturwissenschaftlichen Disziplinen der Physik, der Chemie oder der Biologie eine junge Disziplin. Ihre Grundlagen wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegt, wobei schon im Altertum Überlegungen angestellt wurden, die eine Fragestellung in ein zu untersuchendes System einzubetten versuchten. Im 20. Jahrhundert trafen Aspekte zusammen, die zur Entstehung der Systemwissenschaft als eigenem Wissenschaftsgebiet beitrugen. Das sind insbesondere:

  • die zweite industrielle Revolution und der damit verbundene Bedarf an wirksamen Kontroll-, Steuerungs- und Managementmethoden für große, komplexe Systeme und Projekte, wie zum Beispiel Computer, Raumfahrt, Kernkraft oder Industrieprojekte,
  • die inhaltliche Frage nach der Entstehung neuer Strukturen mit Funktionen aus sich selbst heraus, insbesondere die Frage nach der Entstehung des Lebens (Evolution, Selbstorganisation und Emergenz),
  • das durch die Zersplitterung der Wissenschaft in immer mehr Einzeldisiziplinen entstehende Problem der Integration von wissenschaftlichen Ergebnissen und Erkenntnissen.

Ludwig von BERTALANFFY sah in einer Allgemeinen Systemtheorie (in der Bedeutung: allgemeine Theorie von Systemen) die Möglichkeit, die Zusammenarbeit der Einzeldisziplinen zu fördern und Regelmäßigkeiten zu entdecken, die über den Rahmen der Einzelwissenschaften hinausgehen (Bertalanffy, 1968). Als Biologe beschäftigte er sich mit den Grundphänomenen des Lebens und sah, dass hier mit monokausaler Betrachtungsweise und linearen Beziehungen die zentralen Zusammenhänge nicht zu erfassen waren. Er betonte die Offenheit von Lebewesen gegenüber den Einflüssen ihrer Umwelt, die Selbstregulation (Homöostase) und das dynamische Gleichgewicht. Dabei zweifelte er aber nicht etwa das Kausalprinzip als solches an. BERTALANFFY unterschied seinen Ansatz sehr nachdrücklich von "mechanistisch orientierten Systemtheoretikern, die nur in Begriffen von Mathematik, Rückkopplung und Technologie sprechen und so der Furcht Vorschub leisten, dass Systemtheorie wirklich der jüngste Schritt in Richtung auf Mechanisierung und die Abwertung des Menschen in einer technokratischen Gesellschaft ist". Nach BERTALANFFY sind Mathematik und Naturwissenschaften von großer Bedeutung, "aber die Allgemeine Systemtheorie kann die humanistischen Aspekte nicht umgehen, wenn sie sich nicht eingrenzen will auf eine begrenzte und partielle Sichtweise" (BERTALANFFY 1968, BERTALANFFY u.a. 1977, RAPOPORT 1988).

WIENERs Kybernetik oder Steuerungslehre ist der zweite Vorläufer einer auf Anwendung orientierten Systemwissenschaft. Sein 1948 erschienenes Buch "Kybernetik oder Kontrolle und Kommunikation in Tier und Maschine" verbreitete eine Sichtweise, die den disziplinübergreifenden Regelmäßigkeiten besondere Bedeutung zumaß. WIENER zeigte auf, dass in Technik, Biologie, Medizin, Psychologie, Pädagogik und den Sozialwissenschaften in ihrer Grundstruktur ähnliche Regelungs- und Steuerungsvorgänge vorkommen. Er führt den Begriff "Regelkreis" ein (englisch: "feedback system"). Die damit bezeichnete Denkweise ist aus vielen modernen anwendungsorientierten Wissenschaften nicht mehr wegzudenken (WIENER 1961, VESTER 1981). Allgemeine Systemtheorie und Kybernetik wurden in den 50er bis 70er Jahren des 20. Jahrunderts von Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen aufgegriffen. Verschiedene Autoren zeigten, dass die kybernetische und systemorientierte Denkweise für ihre Disziplinen wichtige Einsichten und Grundlagen für die Strukturierung vermittelt, z.B. ASHBY (1956) als Naturwissenschaftler, ROPOHL (1975) als Ingenieur, CHURCHMAN (1968) und BEER (1973) als Ökonomen, DEUTSCH (1969) als Politologe. MILLER veröffentlichte 1978 eine Gesamtstrukturierung der Erkenntnisse über "Lebende Systeme" (MILLER, 1978), wobei die Auslegung dieses Begriffes vom Einzeller bis zur Weltgesellschaft reicht. Basis dafür waren umfangreiche Arbeiten von interdisziplinär zusammengesetzten Gruppen. Parallel dazu wurde in der Physik, aber auch in der Chemie und Biologie, ein neues Erklärungsmodell für die Existenz, Stabilität und Entwicklung von Systemen fern vom thermodynamischen Gleichgewicht entwickelt. LORENZ hatte eher zufällig die Empfindlichkeit von Konvektionssystemen, wie dem Wetter, vom Anfangswert entdeckt und legte damit die Grundlage für die Chaostheorie (GLEICK 1988). PRIGOGINE (1985, 1981 - zusammen mit STENGERS) konnte zeigen, dass offene Systeme, und damit alle lebenden Systeme, unter Energiezufuhr und Entropieabfuhr in die Umgebung, "dissipative Strukturen" aufbauen können. HAKEN (1978,1980,1985) konnte am Beispiel des Lasers das Herausbilden von geordneten Strukturen aufgrund von kooperativen, internen Wechselwirkungen zeigen und übertrug das Prinzip auf andere physikalische, chemische, biologische, soziale und psychologische Systeme. Er prägte dafür den Begriff "Synergetik" = Wissenschaft des Zusammenwirkens. EIGEN & WINKLER (1975) hatten zeitgleich den Übergang vom unbelebten, präbiontischen Zustand zum ersten primitiven Leben auf der Erde durch die Verkopplung autokatalytischer Kreisläufe zu einem Hyperzyklus erklären können. Diese Entdeckungen haben wesentlich zu einer Weiterentwicklung des naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes und damit der gesamten wissenschaftlichen Erkenntnis beigetragen ("deterministisches Chaos", Ordnung und Strukturbildung).

Ein umfassender Überblick über die Systemwissenschaft stammt von KLIR (1991), der die zunehmende Einwirkungen der Systemwissenschaft auf die Einzelwissenschaften feststellt: "Als Ergebnis der von der Systemwissenschaft seit Jahrzehnten vorgetragenen Argumente werden die Wissenschaftler im allgemeinen in zunehmenden Maße sensibilisiert für die Grenzen ihrer Disziplinen. Sie werden tendenziell immer mehr .... der Tatsache bewußt, daß wichtige Probleme der realen Welt fast immer Aspekte enthalten, die die Grenzen der Einzelwissenschaften überschreiten".

Umweltbezogene Systemwissenschaft

Auf ein ungewöhnlich großes Interesse stieß 1972 das Buch "Die Grenzen des Wachstums" von MEADOWS et al. Auf der Grundlage der "Systems Dynamics"-Methode von FORRESTER (1968) berechneten die Autoren Entwicklungspfade ("Szenarien") der Weltgesellschaft und verdeutlichten damit in anschaulicher Weise die prinzipielle Begrenzung der industriellen Entwicklung. Gerade wegen der kontroversen gesellschaftlichen Diskussion der Annahmen und Szenarien wurde vielen erstmals die Verantwortung für eine nachhaltige, umweltverträgliche Entwicklung bewusst. Damit war auch gleichzeitig der Beginn der umweltbezogenen Systemwissenschaft gelegt. In dem Buch "Der stumme Frühling" von CARSON wurden die Folgen des sorglosen Umgangs mit einer Vielzahl von Umweltschadstoffen bereits dargestellt.

Zunehmend wurde in den dann folgenden Jahren erkannt - beispelsweise ausgelöst durch die neuartigen Waldschäden, die Ozon- und Klimaproblematik, die Gewässer- und Bodenbelastungen -, dass der Systemcharakter der Umwelt stärker in wissenschaftliche und politische Aktivitäten einbezogen werden muss, um einen nachhaltigen, vorsorgenden Umweltschutz betreiben zu können. Nur als das Zusammenwirken vieler interagierender Einzelprozesse sind die langfristigen Einwirkungen menschlicher Tätigkeiten auf Umweltsysteme zu verstehen. Dies beinhaltet die Untersuchung der natürlichen Dynamiken und der ökologischen Prozesse unter Berücksichtigung der laufenden und sich zum Teil akkumulierenden Einflüsse durch die Menschen. Als begrenzender Faktor wirkt neben der Ressourcenverknappung und dem Artenrückgang die Umweltbelastung auf globaler, aber auch auf regionaler und lokal-kommunaler Ebene (zum Beispiel durch Abfall, Abwasser, Immissionen in die Luft.). Insbesondere von städtisch-industriell geprägten und von landwirtschaftlich übernutzten Räumen geht der überwiegende Teil der schwerwiegenden Umweltbelastungen aus. Ein ökologisch verträgliches Stoffstrom- und Energiemanagement bezieht dementsprechend alle einzelnen Komponenten wirtschaftlichen und sozialen Handelns mit ihren Umweltauswirkungen ein. Besondere Beachtung muss dabei den nicht oder schwer kontrollierbaren Stoffströmen zukommen, deren Wirkungen wegen der oft langen Latenzzeiten bis zur Ausbildung manifester Schäden nicht rechtzeitig erkannt worden ist. Einmal in die Umwelt entlassen, können die Stoffe nicht mehr zurückgeholt werden, ihr Verhalten wird allein von den Umweltkräften wie Wind, Sonne, Wasserbewegungen, Nahrungsaufnahme und Bioverfügbarkeit bestimmt. Die Folgen und Risiken durch menschlich bedingte ökosystemare Veränderungen sind in vielen Fällen unbekannt. Die den Prozessen innewohnende Dynamik macht es notwendig, das räumliche Ausmaß der Veränderungen in die Bewertung einzubeziehen und ihren Zeithorizont besonders zu untersuchen (TRAPP und MATTHIES, 1996).

Ashby, W.R. (1956). Introduction to cybernetics. Chapman & Hall, London.
Beer, S. (1973). Kybernetische Führungslehre. Herder, Freiburg.
Bertalanffy, L. v. (1968). General system theory. Braziller, New York.
Bertalanffy, L.v., Beier, W., Laue, R. (1977). Biophysik des Fließgleichgewichtes. Akademie-Verlag, Berlin und Vieweg, Braunschweig.
Churchman, C.W. (1968). The systems approach. Delacorte, New York, N.Y.
Deutsch, K. (1963). The nerves of government. Models of political communication and control. Free Press, New York, N.Y.
Eigen, M., Winkler R. (1975). Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall. Piper, München.
Forrester, J.W. (1968). Principles of systems. Wright-Allen, Cambridge.
Haken, H. (1978). Synergetics - an introduction. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York.
Haken, H., Hrsg. (1980). Dynamics of synergetic systems. Proceedings of the International Symposium on Synergetics at Bielefeld, 1979, Springer Series in Synergetics, Bd. 6, Berlin, Heidelberg, New York.
Haken, H., Hrsg. (1985). Complex systems - operational approaches. Proceedings of the International Symposium on Synergetics at Schloß Elmau, 1985, Springer Series in Synergetics, Bd. 31, Berlin, Heidelberg, New York.
Klir G.J. (1991). Facets of systems science. Plenum Press, New York und London.
Meadows, D. (1972). Die Grenzen des Wachstums. DVA, Stuttgart.
Miller, J.G. (1978). Living systems. McGraw Hill, New York, N.Y.
Prigogine, I. (1985). Vom Sein zum Werden - Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften. Piper, München.
Prigogine, I., Stengers I. (1981). Dialog mit der Natur-Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens. Piper, München.
Rapoport, A. (1988). Allgemeine Systemtheorie. Wesentliche Begriffe und Anwendungen. Verlag Darmstädter Blätter.
Ropohl, E., Hrsg. (1975). Systemtechnik. Hanser, München.
Trapp, S., Matthies, M. (1996). Dynamik von Schadstoffen - Umweltmodellierung mit CemoS. Springer, Heidelberg.
Vester, F. (1981). Neuland des Denkens. DVA, Stuttgart.
Wiener, N. (1961). Cybernetics or control and communication in the animal and the machine. 2. Auflage, M.I.T. Press, Cambridge, Mass. (zuerst 1948).

Weiterführende Literatur zum Thema findet sich bei:

Bak, P. (1996). How nature works. The science of self-organized criticality. Springer, New York.
Bar-Yam, Y. (1997). Dynamics of complex systems. Perseus Books, Reading MA.
Beltrami, E. (1993). Von Krebsen und Kriminellen, Mathematische Methoden in Biologie und Soziologie. Vieweg-Verlag, Braunschweig/Wiesbaden.
Bossel, H. (1989). Simulation dynamischer Systeme. Vieweg, Braunschweig und Wiesbaden.
Bossel, H. (1994). Modellbildung und Simulation, Konzepte, Verfahren und Modelle zum Verhalten dynamischer Systeme. Vieweg, Braunschweig und Wiesbaden.
Boulding, K. (1978). Ecodynamics. Sage, Beverly Hills.
Dörner, D. (1989). Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Rowohlt, Hamburg.
Ebeling, W., Feistel, R. (1986). Physik der Selbstorganisation und Evolution. Akademie-Verlag, Berlin.
Edelstein-Keshet, L. (1988). Mathematical models in biology. Birkhäuser Mathematics Series. McGraw-Hill, New York.
Gerhardt, M., Schuster, H. (1995). Das digitale Universum. Zelluläre Automaten als Modelle der Natur. Vieweg, Braunschweig.
Haken, H. (1983). Advanced Synergetics. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York.
Haken, H. (1981). Erfolgsgeheimnisse der Natur. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart.
Hannon, B., Ruth, M. (1994). Dynamic modeling. Springer-Verlag. Heidelberg und Berlin.
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